Wir haben täglich so viel Begegnungen, hören täglich so viel Geschichten, schauen in so viel Gesichter, dass jede und jeder aus unserer Produktion das am Ende des Tages aussprechen, aufschreiben oder sonst verarbeiten muss. Gerade versuchten wir, während zwei Stunden vergeblich die Auswertungsrunde des heutigen Tages zu beenden.
Heute waren wir zum zweiten Mal in Palmasola, um unsere ersten Workshops anzuleiten. Man hatte uns von der Gefängnisdirektion drei unterschiedliche Sektoren des Gefängnisses zugeteilt, in denen wir jeweils mit Gruppen von 15 bis 20 Gefängnisinsassen arbeiten sollten. Ein Gruppe im PC 4, also dem Gefängnisdorf und damit dem komfortabelsten Teil der Anstalt, eine Gruppe im PC 3, wo es keine Geschäfte, Restaurants, Schulen oder ähnliches gibt, allerdings eine kleine Kirche, in der wir geprobt haben, und eine Gruppe im PC 2, dem Frauengefängnis, das ich selber noch nicht besuchen konnte, von dem aber diejenigen, die dort den Workshop leiteten, begeistert berichten, dass es dort schön sei, gut und sauber riecht, dass dort Pflanzen und sogar Bäume wachsen und dass es Kinder gibt, die dort mit ihren Müttern leben.
PC steht für ‚puerta cerada’, also ‚verschlossene Tür’, bezeichnet aber in diesem Fall jeweils ein Areal der Gefängnisanstalt. Es gibt insgesamt sieben davon, also PC 1 bis PC 7.
Ich war mit einem Kollegen im Männersektor PC 3. Dass wir heute dort arbeiten sollten, war eine spontane Entscheidung der Gefängnisleitung, auf die weder wir noch die Gefangenen vorbereitet waren. Wir wurden kurz vorgestellt, es wurde in die Runde gefragt, welche 15 Personen sich für einen Workshop interessieren, danach wurden die Bänke in der Kirche bei Seite geschoben, und was danach passierte, glich einer Explosion von Erzählungen mit allen sprachlichen und körperlichen MItteln. Wir hatten eigentlich einen methodischen Aufbau von mehreren Übungen und Kennenlern-Spielen vorbereitet, doch also wir den Workshopteilnehmern nebenbei berichteten, dass man uns gestern kurz vorgespielt hat, wie man als Polizist einen Gefangen auf den Boden zwingt, entwickelte sich eine Dynamik, die nicht zu stoppen war. Alle sprangen auf, zeigten ihre Version, korrigierten und ergänzten sich gegenseitig und auf diese Art ging es zwei Stunden am Vormittag und zwei am Nachmittag weiter.
Jeder Gefängnissektor hat ein eigenes Gefängnis im Gefängnis, das sich ‚el bote’ nennt. Man landet dort zum Beispiel, bei Verstößen gegen die Regeln, die sich die Gefangenen untereinander aufgestellt haben. Einem unwillkommenen Neuankömmling im ‚el bote’ kann es passieren, dass er erst einmal die Kloschüssel putzt, seine guten Kleider abgibt, die ihm Mitinsassen gegen alte eintauschen. Wie das vor sich geht, wer welche Rolle dabei einnimmt, wurde uns spontan, mit präzisen Details vorgespielt. Ebenso, wie man dort schläft, nämlich als Menschknäuel. Kaum ausgesprochen, lagen 15 Personen neben- und übereinander am Boden. Wer am Boden keinen Platz findet schläft ein, zwei Stunden im Stehen. Dann wird gewechselt.
Wie ist der körperliche Kontakt bei einer Verhaftung und an den darauffolgenden Tagen mit der Polizei? Es scheint ritualisierte Positionen für die Verhafteten zu geben, denen allen gemeinsam ist, dass sie schmerzhaft und erniedrigend sind.
Wie läuft ein Gerichtsverfahren ab? Einige spielten vor, wie sie innerhalb von wenigen Minuten zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden.
Wie verlaufen die Gespräche mit Familienangehörige, um das Geld für Anwälte zu beschaffen, die häufig nichts oder nur wenig unternehmen? Wie kommt man an die finanziellen Mittel für die Verpflegung im Gefängnis oder an die Miete für die Unterkunft?
Was sind Spezialausdrücke, die nur im Gefängnis kursieren? Wir kamen nicht hinterher, alle aufzuschreiben.
Nach welchen Regeln fordert man „Cancha“, eine Art Duellsituation, die mit den Fäusten ausgetragen wird. Wer hat welche offizielle, von den Gefangenen bestimmte Funktion, bei diesen Kämpfen, die nachts unter Ausschluss der Polizei stattfinden? Wie hoch sind die Einsätze, mit denen auf die jeweiligen Kontrahenten gewettet wird? Wer kassiert welche Provision? Wie ist nach dem Kampf der soziale Status des Verlierers?
Und, und, und...
Egal, welche Fragen wir stellten, egal welche Szene wir vorschlugen, die Antworten kamen schnell, hochenergetisch, sehr klar und wach. Es war eindrücklich, wie stark das Bedürfnis der Teilnehmer war, sich mitzuteilen und ihre Situation darzustellen.
Was immer wieder unvermittelt als Thema auftauchte, war die Razzia vom 14. Marz 2018, die eine Art Staatstreich darstellte, der die vorherige Gefängnisregelung von Víctor Hugo Escobar, alias ‚Oti’ ablöste und die aktuelle implementierte. Dazu arbeiten wir dann morgen.